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Wanderreportagen

Auf der Suche nach einer der seltensten Heuschrecken der Schweiz

Hannes Baur macht immer und immer wieder dieselben Wanderungen. «Ich entdecke stets etwas Neues», erklärt der Heuschreckenexperte aus Bern. So auch im Aufstieg nach Jeizinen VS, auf der Sonnenseite des Rhonetals, wo er auf der Suche nach der Kreuzschrecke etwas erspäht, das er noch nie gesehen hat.
11.04.2025 • Text: Rémy Kappeler, Bilder: Severin Nowacki
Im Anstieg oberhalb Gampel kreucht und fleucht es. Hannes Baur fängt, was ihn neugierig macht.

«Der Höhepunkt der Tour, die Kreuzschrecke, hat sich letzte Woche leider nicht zeigen wollen. Hoffe, wir haben dann mehr Glück. Wir werden aber viele weitere Arten sehen, die interessant sind.» Hannes Baur widmet sich seit seiner Kindheit den Heuschrecken, und seine Mail vor unserem Interviewtermin verspricht viel. Und so ist es: Kaum sind wir in Gampel losgewandert, hüpft die erste Heuschrecke davon. Rot blitzen ihre Flügel auf, als sie in einem weitgezogenen Bogen wegspringt. Ich bin entzückt über die erste Attraktion. «Eine Rotflügelige Ödlandschrecke», sagt der Kenner routiniert. «Lasst uns zügig weitergehen, wir werden heute noch Hunderte Ödlandschrecken sehen.»

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Vorsichtig spannt Hannes Baur die Flügel der Rotflügeligen Ödlandschrecke auf. Sie wird dabei nicht verletzt.

Hannes Baur, warum wandern wir von Gampel hinauf nach Jeizinen?

Wir wollen hier die Kreuzschrecke aufspüren. Sie ist eine der seltensten Heuschrecken der Schweiz und kommt nur noch an wenigen Stellen im Wallis vor. Hier stösst sie an die Nordgrenze ihrer Verbreitung. Im Süden – zum Beispiel in Frankreich, Spanien oder Italien – ist sie noch häufig anzutreffen. Untersuchungen der Universität Bern haben gezeigt, dass die Walliser Populationen genetisch eigenständig, aber auch verletzlich sind.

Warum?

Die Untersuchungen haben auch gezeigt, dass die Populationen der Kreuzschrecke im Wallis stark zurückgegangen sind. Je kleiner eine Population ist, desto geringer ist ihre genetische Vielfalt. Damit ist sie auch gefährdeter. Man kann sich das so vorstellen: Verändert sich die Umwelt – zum Beispiel durch steigende Temperaturen –, fehlen in kleinen Populationen vielleicht diejenigen Individuen, die solche Ereignisse überstehen. Dadurch steigt das Risiko, dass eine Art an einem Ort ausstirbt. Mit einer grösseren Vielfalt des Genpools ist also gewährleistet, dass die Art als Ganzes überlebt.

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Zur Person

Mit 13 Jahren bekam Hannes Baur seinen ersten Insektenkasten geschenkt, mit 15 verquantete er sein Goldvreneli, um ein teures Insektenbestimmungsbuch zu kaufen: Das Herz des 61-jährigen Berners schlägt schon lange für Heuschrecken und parasitäre Wespen. Alsbald arbeitete der gelernte Primarlehrer in verschiedenen entomologischen Sammlungen, seit über 30 Jahren im Naturhistorischen Museum Bern, wo er für die Insektensammlung zuständig ist. Er ist zudem Vizepräsident des Entomologischen Vereins Bern.

Kann man denn nicht einfach Kreuzschrecken aus Südfrankreich hier aussetzen, um die Art zu erhalten?

Wenn wir dies tun, zerstören wir vermutlich den Genpool der hiesigen Schrecken: Sie paaren sich mit den neuen, nach ein paar Jahren gibt es vielleicht nur noch eine Mischform. Oder, wenn wir Pech haben, breitet sich die fremde Population auf Kosten der einheimischen aus.

Wie erkenne ich denn die Kreuzschrecke?

Sie hat auf dem Halsschild eine charakteristische x-förmige Zeichnung. Der Körper ist entweder braun oder grün. Die Hinterflügel sind jedoch dezent gelb mit schwarzem Band. Wie bei den anderen Heuschrecken mit farbigen Hinterflügeln ist das Weibchen deutlich grösser als das Männchen.

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Die Hinterflügel der Kreuzschrecke sind dezent gelb. Erst wenn sie springt, sieht man diese in ihrer ganzen Pracht.

Also machen wir uns auf der trockenen, spärlich bewachsenen Sonnseite des Rhonetals auf die Suche. Immer mehr Insekten springen herum, je länger wir wandern. Es gibt einiges zu lernen: Sind die Hinterflügel blau mit dunklem Band, handelt es sich um eine Blauflügelige Ödlandschrecke – ohne dunkles Band um eine Blauflügelige Sandschrecke. Sind die Flügel rot mit Band, ist es eine Rotflügelige Ödlandschrecke. Die leicht rötlichen Flügel ohne Band gehören der Italienischen Schönschrecke: Diese hat zudem oben auf dem Rücken oft zwei helle Längsstreifen. Während der Körper der Sandschrecke sandfarbig ist, können Ödlandschrecken hellgrau, grau oder hellbraun gefärbt sein. Je nachdem, wo sie sich während der Entwicklung aufhalten, erhalten sie eine andere Farbe. Auf ehemaligen Brandflächen können sie fast schwarz sein.

Ganz schön knifflig, die Heuschreckenart zu bestimmen. 

Ja, neben der Farbe muss man auch andere Merkmale berücksichtigen. Bei den Ödlandschrecken kann man sich am Vorkommen orientieren: die roten sind mehr am Felsen, die blauen mehr am Boden zu finden. Nach dem Flug zeigen beide auffällige Bewegungen mit den Hinterbeinen. Damit versuchen sie, die Aufmerksamkeit eines Partners zu erlangen, der möglicherweise gleich in der Nähe sitzt. Sandschrecken sind überaus wendige Flieger.

Weshalb haben die Heuschrecken farbige Flügel?

Zur Abschreckung. Ruhen sie, sind sie gut getarnt an den Untergrund angepasst. Bei Gefahr fliegen sie auf und zeigen ihre Flügel, was den Angreifer überrascht und ablenkt. Das gibt der Heuschrecke Zeit, zu fliehen und sich wieder zu tarnen.

Das Bestimmen der Heuschrecken fällt mir und dem Fotografen nun bereits leichter. Oft greift Hannes Baur zum Netz, pirscht sich an und schwingt es schnell über das Insekt. Routiniert greift er dann hinein und nimmt den «Heugümper» zwischen Daumen und Zeigefinger. So lässt sich das Tier problemlos fixieren. Der Experte zieht die farbigen Flügel vorsichtig auseinander und erklärt uns die Eigenheiten, bevor er die Schrecke wieder freilässt. Zurück auf seinen Fingern bleibt ein gelbes Abwehrsekret, das die Heuschrecken absondern – es ist für menschliche Finger ungefährlich.

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Auf einer extensiven Trockenwiese bei Oberi Zälg leben viele Grashüpfer.

Bald betreten wir das Habitat der Kreuzschrecke. Jetzt heisst es: «Augen auf!» Doch es zeigt sich auch heute weit und breit kein solches Tier. «Hier sollten sie eigentlich sein», murmelt Hannes Baur mehrmals, mit zügigem Tempo vorausschreitend, während wir uns in der Bestimmung und Beobachtung einzelner Schrecken versuchen. «Ich glaubs nicht, ich glaubs einfach nicht!», hören wir Hannes Baur weiter vorne plötzlich rufen. Wir schliessen zu ihm auf. «Das habe ich noch nie gesehen! Da finde ich eine Eidechse mit einer Heuschrecke zwischen den Zähnen – ausgerechnet mit einer Kreuzschrecke!», ruft der Forscher. Flugs fängt er die Eidechse mit dem Netz, stiehlt ihr die Beute und untersucht sie genauer. Er zeigt uns den grünen, im Vergleich zum Körper mächtigen Kopf der Schrecke. Dann wirft er der Eidechse ihren Fang wieder hin, die ihn sich nach anfänglichem Zögern schnappt und – ohne sich von unseren neugierigen Blicken stören zu lassen – mit dem Verzehr einfach weiterfährt.

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Nur selten zu beobachten: Eine Eidechse hat eine Kreuzschrecke gejagt.

Sie haben diese Wanderung schon Dutzende Male gemacht. Wie wir gesehen haben, wird sie Ihnen nie langweilig.

Nein, ich entdecke stets etwas Neues. Einige Wanderungen habe ich schon als Kind mit meinem Vater viele Male gemacht – auch er hatte ein grosses Interesse an Insekten. Ich mag mich noch gut erinnern, als ich bei Hohtenn mit 13 Jahren zum ersten Mal eine Gottesanbeterin gesehen habe. Diese Schrecke hält ihre Vorderbeine so, als würde sie beten. Damals gab es weder Internet noch Handys, man wusste auch noch nicht so genau, wo man die seltenen Gottesanbeterinnen findet. War das aufregend!

Sie sind oft auch mit einem bestimmten Ziel unterwegs. 

Ja, derzeit bin ich auf der Suche nach einer seltenen Erzwespe. Ich möchte ein Exemplar davon fangen und genetisch untersuchen.

Wir wollen nicht glauben, dass die Kreuzschrecke im Maul der Eidechse die einzige am heutigen Tag gewesen sein soll. Am Wegrand stehen nun Flaumeichen, Waldgrillen beginnen zu singen. Plötzlich fliegt ein grünes Etwas vorbei und landet im Gras. Beim näheren Hinsehen entpuppt sich ein Teil eines Halmes als Gottesanbeterin. Neugierig schaut der dreieckige Kopf des Männchens in unsere Richtung. «Sie sind entfernte Verwandte von Heuschrecken», erklärt uns Hannes Baur.

Fast schon geben wir unsere Suche nach einer lebenden Kreuzschrecke auf. Doch dann, kurz vor Jeizibärg, ist es so weit. Sie hüpft von der Strasse ins steile Gelände, wo wir sie einfangen können. Das weisse Kreuz leuchtet auf dem Rücken zwischen hellgrünen Stellen, die dunkel gebänderten, gelblichen Flügel glänzen in der Sonne, die roten Hinterbeine sind gut sichtbar – ein Prachtsexemplar haben wir da gefunden und damit unser Tagesziel mehr als erreicht.

Wie kommt es, dass es heute so schwierig war, eine Kreuzschrecke zu finden? 

Die Populationen der Kreuzschrecken nehmen im Spätsommer rasch ab, deshalb hat es jetzt wohl nur noch wenige. Die adulten Tiere haben ihre Eier gelegt und damit ihre Aufgabe erfüllt, sie sterben. Im nächsten Frühling schlüpfen dann die Jungen, die mehrere Nymphenstadien durchlaufen. Während des Wachstums häuten sie sich mehrmals, erhalten Flügel und werden geschlechtsreif.

Dafür hören wir jetzt gerade viele Grillen.

Ja, das sind Waldgrillen. Sie haben einen zweijährigen Lebenszyklus, während die anderen Heuschreckenarten einen einjährigen haben. Dadurch gibt es zu jeder Jahreszeit Waldgrillen in verschiedenen Stadien – sogar im Winter hört man sie singen, solange kein Schnee liegt. Sie gehören zu den häufigsten Heuschrecken der Schweiz. Sie zu beobachten, ist aber schwierig, weil sie klein und im trockenen Laub gut getarnt sind.

Die Exkursion geht dem Ende entgegen, wir nähern uns dem Bergdorf Jeizinen. Bei Oberi Zälg betreten wir eine Trockenwiese, es riecht aromatisch, zahlreich leuchtet der Gelbe Zahntrost im Sonnenlicht. Hunderte von Heuschrecken hüpfen herum, viele davon sind Grashüpfer. Hannes Baur fängt auch hier einige, erklärt ihre Eigenheiten, ihre Gesänge. Wiederum ist für Laien die Bestimmung nicht einfach: Der Braune Grashüpfer, der Nachtigall-Grashüpfer und der Verkannte Grashüpfer sehen beispielsweise fast gleich aus, sie sind alle braun. Und doch können Insektenfans sie voneinander unterscheiden, erklärt Hannes Baur vielsagend: «Der unterschiedliche Gesang verrät sie.»


Im Land der Heuschrecken von Jeizinen
Gampel, Dorf — Jeizinen • VS

Im Land der Heuschrecken von Jeizinen

Wer gern einmal einen Tag lang Heuschrecken beobachten möchte, ist auf dem Aufstieg von Gampel nach Jeizinen genau richtig. Schon auf den ersten paar Metern kreucht und fleucht es hier im Sommer. «Heugümper» springen jedes Mal weg, wenn man den Schuh aufsetzt. Und wer genau hinschaut, sieht, dass sie beim Weghüpfen ihre roten und blauen Flügel öffnen. Es sind Blauflügelige und Rotflügelige Ödlandschrecken. Oder Italienische Schönschrecken mit rötlichen Flügeln bzw. Blauflügelige Sandschrecken. Sie fühlen sich wohl auf der trockenen, spärlich bewachsenen Sonnseite des Rhonetals. Und sie sind mit ihrem Hellgrau, ihrem Grau, ihrem Hellbraun oder ihrer Sandfarbe gut getarnt. Werden sie trotzdem entdeckt, zeigen sie beim Fliehen ihre Flügel und lenken den Angreifer ab. Das Beobachten braucht viel Zeit, und so sind die vielen Höhenmeter gut aufgeteilt auf einige Stunden. Guter Sonnenschutz ist essenziell: Insekten lieben wolkenlosen Himmel. Um sie einfacher zu beobachten, geht man besser früh am Tag los, da sind sie noch träge. Von der Bushaltestelle «Gampel, Dorf» wandert man dem Rosenkranzweg mit seinen Wegkreuzen entlang. Recht bald beginnt der Weg zu steigen und arbeitet sich in vielen Kehren in die Höhe. Erst durch eine Felslandschaft, bald etwas schattiger durch den Wald. Bei Jeizibärg warten ein Bänkli und ein Brunnen für eine Pause, bevor man bei Oberi Zälg Trockenwiesen passiert. Auch hier gibt es viele Heuschrecken und andere Insekten zu beobachten. Schliesslich erreicht man Jeizinen, wo ein kühles Getränk wartet, bevor man ins Seilbähnlein steigt, das einen wieder runter nach Gampel bringt.

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