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Eintauchen in die Gorges de l’Orbe

Die Orbe-Schlucht im Kanton Waadt ist kein Ort für Sonnenanbeter. Dafür aber für Naturinteressierte: Moose, Farne und eine Vielzahl an Lebewesen fühlen sich wohl in dieser schattig-feuchten Welt. Sogar die Steine sind grün.
05.04.2024 • Text: Simon Koechlin
Ein Höhepunkt der Orbe-Schlucht: jahrtausendealte Gletschertöpfe bei Les Clées. Bilder: Raja Läubli

Wer von Le Day in die Gorges de l’Orbe hinuntersteigt, taucht ein in eine andere Welt. Hellgrün schimmern die Blätter der Buchen an den Hängen der Schlucht, welche die Orbe im Lauf der Jahrtausende in den Fels gefressen hat. Vereinzelt setzen die Nadeln der Fichten dunkelgrüne Kontraste. Auch die Steine sind grün in dieser Wunderwelt. Wie von Riesen hingeworfen, liegen die Brocken am Wegrand – überzogen mit einer Schicht Moos.

Moose sind unscheinbare Gewächse – doch auf dieser Schluchtwanderung sind sie allgegenwärtig. «Moose können ihren Wasserhaushalt nicht wie andere Pflanzen regulieren», sagt Heike Hofmann. Sie forscht an der Universität Zürich und leitet Swissbryophytes, das nationale Daten- und Informationszentrum der Schweizer Moose. Farne und Blütenpflanzen holen mit ihren Wurzeln auch während Trockenperioden Wassernachschub aus dem Boden. Die Würzelchen der Moose hingegen dienen vor allem der Haftung auf dem Untergrund – sie können zwar für sich selbst etwas Wasser aufnehmen, leiten es aber nicht weiter. «Wenn es nass ist, nehmen Moose mit ihrer ganzen Oberfläche Wasser auf», sagt Hofmann. «Aber wenn die Luft nicht feucht genug ist, trocknen sie aus – wie ein Schwamm.»

In der Orbe-Schlucht mangelt es nicht an Feuchtigkeit. Bäume und steile Hänge verhindern auch an schönen Tagen, dass die Sonne hier ihre ganze Kraft entfaltet. Zudem halten sie Winde fern, die den Lebensraum rasch austrocknen könnten. Für Moose sind das paradiesische Verhältnisse. Zudem tragen die unscheinbaren Pflänzchen selbst dazu bei, das Schluchtklima ausgeglichen feucht zu halten, wie Heike Hofmann erklärt. «Wenn es nicht regnet, geben Moose das gespeicherte Wasser langsam ab. Das hält die Luftfeuchtigkeit hoch.»

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Paradiesische Verhältnisse für Schattenliebhaber in den Gorges de l’Orbe.

Wasser und Kleintiere

Überhaupt übernehmen Moose in Schluchten wichtige Funktionen. Mit ihren Schwammeigenschaften verhindern sie, dass zu viel Wasser auf einmal abfliesst. Und sie sind Pioniere: Als erste Lebewesen besiedeln sie blanke Felsen und karge Böden. Mit der Zeit sammelt sich in den Moospolstern Feinmaterial, eine Erdschicht bildet sich. So bereiten Moose den Weg für das Wachstum anderer Pflanzen.

Nicht zuletzt sind Moospolster ein Lebensraum für Kleinstlebewesen. Wer vorsichtig etwas Moos von einem Stein hebt, kann darin Spinnen und Käfer finden. Oder winzige weisse, schwarze und rötliche Punkte, die sich unter dem Vergrösserungsglas als Milben, Springschwänze oder Bärtierchen entpuppen. «Diese Tierchen wären ungeschützt, wenn es die Moose nicht gäbe», sagt Heike Hofmann. Bis zu 60 000 Tierchen hat man auf einem Quadratmeter Moos gezählt – eine Kleinstadt im Miniaturformat. Auch grössere Tiere profitieren von den grünen Teppichen. Die Blaumeise, die auch in der Orbe-Schlucht durch die Buchenästchen turnt, polstert ihr Nest mit Moosstücken. Amseln und Igel durchwühlen Moose gerne auf der Suche nach Würmern oder Schnecken.

Seit 1970 steht die Orbe-Schlucht unter Naturschutz. Das nützt auch den Moosen: Langsam, aber unaufhaltsam besiedeln sie tote Baumstämme und Äste, die herumstehen oder -liegen. Doch wie praktisch alle Schweizer Flüsse, ist auch die Orbe nicht mehr in ihrem natürlichen Zustand. Seit Langem wird ihr Wasser zur Energiegewinnung genutzt; acht Kraftwerksanlagen produzieren Strom für ungefähr 30 000 Personen. Unter anderem staut der Barrage du Day einen Teil des Wassers, das in die Schlucht fliesst. Auch der spektakulärste Punkt der Wanderung stand viele Jahre ganz im Zeichen der Wasserenergie: 1890 eröffnete in der Schlucht die weltweit erste elektrochemische Fabrik ihre Tore. Sie nutzte Energie, die aus dem Saut du Day gewonnen wurde. Hier stürzt die Orbe in mehreren Stufen über 70 Meter ins Tal und speist ein grosses Becken, das heute zum Baden einlädt.

«Wenn es nicht regnet, geben Moose das gespeicherte Wasser langsam ab. Das hält die Luftfeuchtigkeit hoch.»

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