Wanderreportagen
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Hötteträgete
Jedes Jahr kommen die Mitglieder der Sektion Toggenburg des Schweizer Alpen-Clubs zusammen, um Brennholz, Lebensmittel und Haushaltsartikel zur Zwinglipasshütte hinaufzutragen. Dank diesen «Sherpas» kann pro Saison ein Helikopterflug eingespart werden.
24.05.2024 • Text: Patricia Michaud, Bilder: Markus Ruff
Schwer bepackt geht es gemächlich aufwärts, am Fusse des Gipfels.
Der Anblick erinnert an eine Poya, eine dieser traditionellen Darstellungen von Kühen beim Alpaufzug, im Zickzack und eine hinter der anderen. Statt Wiederkäuern sind es jedoch Dutzende von Frauen, Männern und Kindern, die im Gänsemarsch den steilen Pfad zur Zwinglipasshütte hinaufstapfen. Sie alle haben sich an diesem Samstag im Juni 2023 im Morgengrauen in Wildhaus SG eingefunden, von wo aus sie ein Kleinbus auf die Teselalp gebracht hat. Sogar noch etwas früher, um Punkt vier Uhr, klingelte der Wecker von Hüttenchef Hans Egli, der es sich nicht nehmen lässt, die Helferinnen und Helfer persönlich auf der kleinen Alp im Obertoggenburg zu begrüssen.
Dass der Tag so zeitig beginnt, liegt nicht etwa an für später befürchteten hohen Temperaturen, von denen das Bergmassiv mit Blick auf die majestätischen Churfirsten zu dieser Jahreszeit üblicherweise verschont bleibt. Grund ist vielmehr, dass auf die rund 160 zu diesem besonderen Einsatz angetretenen Freiwilligen einiges an Arbeit wartet. Konkret geht es um den Transport mehrerer Tonnen Holz, Lebensmittel und Haushaltsartikel zur Zwinglipasshütte auf 1991 Metern Höhe, unterhalb des gleichnamigen Passes.
Ein Muss, dabei zu sein
Die Tradition der Hötteträgete reicht über 50 Jahre zurück und ist damit fast so alt wie die Hütte selbst, die 1970 eingeweiht wurde und der Sektion Toggenburg des Schweizer Alpen-Club (SAC) gehört. Immer am letzten Samstag im Juni kommen die Mitglieder der Sektion zusammen, oftmals begleitet von Freunden oder Angehörigen, um «ihre» Hütte – auf denkbar nachhaltige Weise – mit Vorräten für die Sommersaison zu versorgen. Natürlich kommt bei aller Schlepperei auch die Geselligkeit nicht zu kurz. «Die Hötteträgete ist eine der wenigen Gelegenheiten, um so viele Sektionsmitglieder auf einmal zu treffen», erklärt ein etwa 60-jähriger Teilnehmer: «Für mich ist es praktisch ein Muss, hier mit dabei zu sein.»
Auf Rekordjagd
Ab der Teselalp, wo die befahrbare Strasse endet, nehmen die auch liebevoll «Sherpas vom Zwinglipass» genannten Helferinnen und Helfer den Bergwanderweg hinauf zur Chreialp in Angriff – leichten Schrittes, sind ihre Rucksäcke doch noch leer. Dafür sorgt eine kleine Materialseilbahn zwischen den beiden Alpen, die alle Waren bis auf 1800 Meter befördert.
Bereits der Schweiss auf der Stirn steht hingegen denjenigen Freiwilligen, die seit sechs Uhr morgens die Seilbahn mit Multipacks WC-Papier, Schlagrahmdosen und Kirschflaschen beladen. Ab der Chreialp sind dann die Trägerinnen und Träger gefordert, die – so oft sie können und wollen – die 200 Meter Höhenunterschied bis zur Zwinglipasshütte aufsteigen, den Rücken gebeugt unter dem Gewicht von Holzscheiten, Konservenbüchsen oder Biskuitpackungen.
Vom mächtigen Stapel Brennholz, der am oberen Ende der Seilbahn bereitsteht, nimmt jeder so viel, wie er buckeln mag. Das geht von einigen Scheiten für die jüngsten Sektionsmitglieder – die diese sorgfältig in ihren XXS-Wanderrucksäcken verstauen – bis zu mehreren Dutzend Kilos bei den kräftigsten Freiwilligen. Diese tauschen dafür in der Regel ihren Rucksack gegen ein Räf, eine Rückentrage aus Holz mit Schulterriemen, auf der beeindruckende Mengen an Material gestapelt werden können.
Ein etwa 40-jähriger Helfer, der zum ersten Mal mitmacht, ist gerade dabei, einen klassischen Anfängerfehler zu begehen: Nachdem er sein auf dem Boden stehendes Räf beladen hat, setzt er sich hin, streift die Lederriemen über die Schultern und versucht aufzustehen – ein aussichtsloses Unterfangen. Ihm bleibt nichts übrig, als noch einmal von vorne zu beginnen, diesmal im Stehen und mit Unterstützung anderer Teilnehmer. Derweil ist die Rekordjagd in vollem Gang: Manche besonders ausdauernde und ehrgeizige Mitglieder der Sektion drehen bis zu zehn Runden und mehr, im Schneckentempo hinauf und im Laufschritt hinab.
Ein Drittel weniger Emissionen
Bereits zu den Routiniers gehört ein junger Mann Anfang 20, auf dessen prall mit Holzscheiten gefülltem Rucksack zusätzlich ein Sixpack Apfelsaft thront: «An der Hötteträgete nehme ich teil, seit ich denken kann. Als kleiner Junge bin ich immer mit meinen Grosseltern hergekommen.» Jetzt ist erstmals seine Freundin mit dabei – «weil ich genug davon hatte, den letzten Samstag im Juni allein zu verbringen», wie sie mit einem Augenzwinkern erklärt. Auf der anderen Seite des Holzstapels nimmt eine athletische Mittdreissigerin noch einen Schluck Wasser, bevor sie sich zum wiederholten Mal an den Aufstieg macht. «Eine Bekannte hat mir von diesem Anlass erzählt», berichtet sie. «Ich selbst bin zwar kein SAC-Mitglied, aber eine passionierte Wanderin. Ich finde es wichtig, die Leute dafür zu sensibilisieren, dass ihr Bier nicht von allein auf die Terrasse der Hütte kommt …»
Eher skeptisch ist sie hingegen in Bezug auf den konkreten ökologischen Nutzen der Aktion. Der Hüttenchef hat da aber keine Zweifel: «Die CO2-Bilanz der Zwinglipasshütte zeigt, dass wir dank der Hötteträgete – auch unter Berücksichtigung der Autokilometer für die Anreise der Teilnehmenden – im Vergleich zu ausschliesslich per Helikopter versorgten Hütten rund ein Drittel Emissionen einsparen.»
Ein durchaus erfreuliches Resultat – aber könnte man nicht noch einen Schritt weitergehen und ganz auf Heliflüge verzichten? Leider sei das keine Option, sagt Egli: «Seit wir vor etwa zehn Jahren begonnen haben, auch Halbpension anzubieten, reicht die Hötteträgete nicht mehr aus, um die gesamte Versorgung der Hütte sicherzustellen.» Einen ersten Flug zum Auffüllen der Vorräte braucht es zum Saisonauftakt, und gegen Ende des Sommers ist dann noch einmal Nachschub aus der Luft nötig.
Alternativen im Gespräch
In den 1970er-Jahren war die Zwinglipasshütte mit der Hötteträgete eine Pionierin in diesem Bereich, hat aber seither einige Nachahmer gefunden. Als Beispiel nennt Bruno Lüthi, Fachleiter Hüttenbetrieb beim SAC, die Gspaltenhornhütte im Besitz der Sektion Bern, die einen ähnlichen Anlass durchführt. «Generell ermuntern wir die Sektionen und die Hüttenverantwortlichen dazu, Alternativen zur Versorgung per Helikopter zu prüfen», etwa indem die Gäste dazu animiert würden, im Tal bereitstehende Vorräte mitzunehmen. Diesen Ansatz verfolgt unter anderem die Chamanna Cluozza, eine private Hütte im Nationalpark. Auf der Zwinglipasshütte gilt derweil eine «ebenso nachhaltige wie gesellige» Regel: Das Brot zum Frühstück muss von den Gästen selbst mitgebracht werden.
Da die Modalitäten der Versorgung Sache der jeweiligen Sektion beziehungsweise der einzelnen Hütten sind, hat der Zentralvorstand des SAC dazu keine Leitlinien erlassen. Zu Fragen der Nachhaltigkeit im Allgemeinen seien aber verschiedene Aktivitäten im Gang, betont Lüthi. So wurde etwa im Rahmen eines Pilotprojekts die CO2-Bilanz von neun Hütten erstellt.
Diese habe gezeigt, dass die Hüttenbelieferung für den grössten Teil der Emissionen verantwortlich sei (38 %), gefolgt von Lebensmitteln und Getränken (34 %) sowie der Energieversorgung (20 %). Der SAC beschäftige sich intensiv mit Alternativen zum Helitransport, insbesondere durch den Bau von Materialseilbahnen oder den Einsatz von Drohnen. Mithilfe dieser und anderer Massnahmen will der Verband eines der Ziele seiner Klimastrategie erreichen: den klimaneutralen Betrieb von 50 Prozent der bewarteten Hütten bis 2030.
Kein Gedanke an den Abstieg
Doch egal, wie die Versorgung der Hütten in Zukunft aussehen wird, eines scheint sicher: Im Obertoggenburg wird die Tradition der Hötteträgete wohl noch lange Bestand haben. Noch vor dem Mittag sind die letzten Holzscheite, Milchkartons und Bierdosen in der Hütte angekommen und verstaut. Zeit für die traditionelle Suppe, die den Freiwilligen auf der Terrasse serviert wird. Manche haben ihre Wanderschuhe ausgezogen, strecken die Zehen in die Sonne und geniessen den Anblick der Churfirsten, untermalt von Akkordeonklängen. Für ihre tatkräftige Unterstützung erhalten die Helferinnen und Helfer zudem stets ein Erinnerungsgeschenk, dieses Mal eine spezielle Trinkflasche. Die nächsten Stunden gehören ganz dem gemütlichen Zusammensein – an den letzten steilen Abstieg hinunter zur Teselalp, der die bereits mächtig beanspruchten Gelenke noch einmal zum Knirschen bringen dürfte, mag derweil noch niemand denken …