Wanderreportagen
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Europas höchster Nagelfluhberg
Nirgendwo sonst türmt sich der Ablagerungsschutt der Alpen so hoch wie am Speer. Sein Gestein, die Nagelfluh, wurde während Jahrmillionen als Erosionsmaterial im Molassebecken gesammelt und zum Schluss der Alpenbildung als steiler Kamm zwischen Toggenburg und Linthebene aufgestellt.
24.05.2024 • Text: Daniel Fleuti, Bilder: naturwelten und Daniel Fleuti
Die Speerspitze. Daneben sind die schräg gestellten Schuppen aus Nagelfluh schön sichtbar.
Der Speer, 1950 Meter. König der Voralpen nennt man ihn, seiner stolzen Form und seiner prächtigen Aussicht wegen. Hat man den steilen Gipfelaufstieg geschafft, erwartet einen tatsächlich ein einzigartiges Panorama. Der Alpstein mit der Felsbastion Säntis im Zentrum, das Toggenburg mit seinen Tälern und Furchen, die durchmodellierte Linthebene, ein Stück vom Walensee, die Zentralschweizer und die Glarner Alpen, der Zürichsee, ja gar der Bodensee, der Schwarzwald und der Jura zeigen sich. Gut, gibt es auf dem Gipfel genügend Platz und sogar Sitzbänke, um die Pracht zu geniessen. Nur einer steht dem Panoramablick im Weg, und zwar zünftig. Der Mattstogg, 1935 Meter. Kein Berg, sondern ein Massiv aus dunklem Gestein, mit steilen, abweisenden Felswänden und einem Graben, der ihn umgibt. Wäre dieser Mattstogg nicht, sähe man den ganzen Walensee und die liebliche Sonnenterasse von Amden auch noch.
Nägel mit runden Köpfen
So schön wie sein Panorama, so imposant ist der Speer in seiner Erscheinung. Von Weitem betrachtet, gleicht der Berg einer Speerspitze, was ihm den Namen eingetragen haben soll. Der Gipfelaufbau in Form einer mächtigen Felspyramide prägt die Landschaft zwischen Linthebene und Toggenburg – gleich einer Landmarke hebt sich der Speer von seinen Nachbarn ab und überragt sie alle. König der Voralpen. Wenn da nur dieser Mattstogg nicht wäre. Wir werden später auf ihn zu sprechen kommen.
Erst einmal gilt die Aufmerksamkeit dem Baumaterial des Speers. Nagelfluh heisst es, ein Gestein, das aus unterschiedlich grossen Kieselsteinen besteht, die von einer feinkörnigen Masse – in der Geologie Matrix genannt – zusammengehalten werden. Auf der Oberfläche treten die Kieselsteine wie Nägel mit runden Köpfen hervor, was der Nagelfluh den ersten Teil ihres Namens eingetragen hat. Eine Fluh wiederum ist ein altschweizerischer Ausdruck für eine steile Felswand, und auf solche trifft man in Gebieten mit Nagelfluh häufig. «Nagelfluh ist ein volkstümlicher Begriff, der seit dem Spätmittelalter verwendet wird», erklärt Geologe Jürg Meyer. Er hingegen benutzt den Fachausdruck Konglomerat, was so viel heisst wie «verfestigter Flusskies». »Im Unterschied dazu gibt es noch den verfestigen Sand, der heisst dann Sandstein. Beide zusammen bilden die Molasse.» Eine Wanderung auf den Speer ist, das ist an dieser Stelle klar, auch ein Ausflug in die Welt der Geologie – und in die Zeit, als unser Land ganz anders aussah als heute.
Molasse – ein riesiges Schuttbecken
Vor 100 Millionen Jahren liegt die Schweiz unter einem Meer, das Tethys, in Anlehnung an eine griechische Meeresgöttin, genannt wird. Von Bergen ist weit und breit nichts zu sehen. Da beginnt die afrikanische Kontinentalplatte – eine der grossen tektonischen Platten, aus denen die Erdoberfläche gebaut ist – sich nordwärts gegen die europäische zu schieben. Der Jahrmillionen dauernde Prozess der Alpenbildung startet.
Zuerst werden die Gesteine am Grund des Tethysozeans zusammengedrückt und unter dem Rand der afrikanischen Kontinentalplatte in die Tiefe gezogen, was in der Geologie Subduktion heisst. Dann, ab rund 60 Millionen Jahren, kollidieren der europäische und afrikanische Kontinent miteinander, verkeilen sich unter gewaltiger Krafteinwirkung ineinander und werden in der Folge langsam zu einem Gebirge angehoben. Gleichzeitig setzt die Erosion dem noch jungen Gebirge zu. Regen, Wind und Eis tragen das Gestein wieder ab, Flüsse transportieren das zerkleinerte Material ins Vorland der Alpen und lassen ein riesiges Molassebecken entstehen. «Molasse ist nichts anderes als der Abtragungsschutt eines sich hebenden oder bildenden Gebirges», erklärt Jürg Meyer. «In der Nähe des Gebirges hat dieser Schutt noch die Form von grobem Kies, je weiter die Flüsse das Material tragen, desto feiner wird es, bis man von Sand spricht.»
800 Kilometer langer Trog
Das Molassebecken der Alpen hat eindrückliche Dimensionen. Seine Dicke beträgt bis zu 5000 Meter, seine Ausdehnung reicht von der Haute-Savoie in Frankreich über das Schweizer Mittelland, den süddeutschen Raum und Oberösterreich bis nach Wien, rund 800 Kilometer. Zustande gekommen ist seine Beckenform, weil unter dem Gewicht der entstehenden Alpen die europäische Kontinentalplatte einsank und einen riesigen Trog entstehen liess.
Dieser Trog füllt sich nicht von heute auf morgen. «Der Prozess startete etwa vor 35 Millionen Jahren. 30 Millionen Jahre später war das Molassebecken mit seinen vier Schichten fertig gebaut», sagt Jürg Meyer. Die frühesten Ablagerungen gelangen noch in ein flaches Randmeer, man spricht von der Unteren Meeresmolasse. Dieses füllt sich nach und nach auf, und die Untere Süsswassermolasse, eine Festlandablagerung, entsteht. Eine neuerliche Absenkung führt wieder zu einer Flachmeerbedeckung und damit zur Bildung der Oberen Meeresmolasse. «Diese enthält viel grün-grauen Sandstein, aus dem die grossen Bauwerke der Schweiz gefertigt sind: das Berner Münster, das Bundeshaus, die Kathedrale in Lausanne oder das Zürcher Fraumünster», erklärt Jürg Meyer. Die letzte Abfolge schliesslich ist die wieder festländische Obere Süsswassermolasse, auf ihr lebt grossenteils das heutige Schweizer Mittelland.
Zusammengeschoben und aufgestellt
Aus diesem riesigen Molassebecken also stammt die Nagelfluh des Speers, und zwar aus der Unteren Süsswassermolasse, die vor rund 30 bis 25 Millionen Jahren abgelagert wurde. Die Speer-Nagelfluh war Teil eines Megaschuttfächers. «Unter einem Megaschuttfächer muss man sich eine mehrere hundert Quadratkilometer grosse Schwemmlandschaft vorstellen, in der die Flüsse über einen langen Zeitraum gewaltige Kiesmengen aufgeschüttet haben», sagt Jürg Meyer. Der Speer-Schuttfächer enthält Material, das ein Vorläufer des Rheins aus dem Gebiet der heutigen Bündner Alpen hergebracht hat. Dieses Material besteht primär aus unterschiedlichen Kalkgesteinen oder, in der Sprache der Geologie, Sedimentgesteinen.
Und wie wurde aus dem ebenen, kilometerweiten Megaschuttfächer ein Berg namens Speer? «Das ist recht einfach. Durch das andauernde Anrücken des afrikanischen Kontinents werden selbst die dem Alpenrand am nächsten liegenden älteren Molasseablagerungen – darunter der Speer-Schuttfächer – erfasst und wie Dachziegel übereinandergestapelt und aufgefaltet. Die weiter südlich beheimatete Säntisdecke, eine mächtige Gesteinsschicht aus marinen Kalk-Mergel-Abfolgen, schiebt sich mit gewaltiger Kraft über den Speer-Schuttfächer, reisst von diesem zwei grosse Schuppen ab, verkeilt sie ineinander und stellt das Ganze in einem Winkel von 40 Grad schräg in die Landschaft.» Da stand er, der Speer.
Sein Nachbar Mattstogg ebenso. «Der Mattstogg gehört zur Säntisdecke und hat einen ganz anderen geologischen Aufbau», erklärt Jürg Meyer und schwärmt: «Die Überschiebung der Säntisdecke auf die Speermolasse ist bis über das Toggenburgertal und unter den Säntis in der Landschaft verfolgbar – wie in einem aufgeschlagenen Geologiebuch.»
Geologischer Tiefenschnitt vom Jura bis in die Berner Hochalpen rund 100 km westlich des Speers – doch das Prinzip bleibt das Gleiche. Man erkennt in Dunkelgelb die bis zu fünf Kilometer mächtigen Molasseschichten, flach liegend unter dem Mittelland, an der Alpenfront von den alpinen Gesteinsdecken (hellgrün und violett) weit überschoben und an der Front steilgestellt – was am Speer so eindrücklich zu erleben ist.
Wie Bücher in einem Regal
Ein guter Platz, um das einstige Geschehen nachzuvollziehen, ist die Alp Oberchäsere. Sie liegt exakt zwischen Speer und Mattstogg. Die beiden Schuppen, welche die Säntisdecke vom Speer-Schuttfächer abgerissen, ineinander verkeilt und schräg aufgestellt hat, zeigen sich als eine Abfolge unzähliger Geländerippen mit dazwischen liegenden Tälchen. Sie sehen aus wie dünne Bücher oder Briefumschläge, die alle gleich schräg in einem Regal stehen. Die Rippen bestehen aus harten Nagelfluhschichten, die Tälchen aus weicheren; sie wurden im Laufe der Jahrmillionen ausgewaschen. Die Reihe beginnt am 1865 Meter hohen Federispitz und zieht sich über knapp dreieinhalb Kilometer bis zum Gipfel des Speers. Die beiden Schuppen haben durch das Zusammenschieben eine enorme Dicke von bis zu 2500 Meter erhalten; mit ein Grund, weshalb der Speer mit seinen 1950 Metern Europas höchster Nagelfluhberg ist.
Mauern aus Nagelfluh
Gegenüber präsentiert sich der Mattstogg in voller Grösse. «Seine steilen, abweisenden Felswände sind typisch für den Schrattenkalk, sein hauptsächliches Baumaterial. Diese schroffen Felswände begegnen einem noch an den Churfirsten und natürlich am Namensgeber, dem Säntis», erklärt Jürg Meyer. Charakteristisch für Schrattenkalk sind zudem verkarstete Gebiete mit weit verzweigten, unterirdischen Wasser- und Höhlensystemen.
Nagelfluh wird rund um den Speer auch als Baumaterial genutzt, was selten ist. Zwischen Speermürli und Bläss Chopf sowie im benachbarten Ijental wurden vor gut hundert Jahren kilometerlange Trockenmauern aus Nagelfluh gebaut, um die grossen Weidegebiete voneinander abzugrenzen. Im Ijental wird nun ein Teil dieser Nagelfluhmauern saniert, im Zuge des Lebensraumprojekts «Ijental-Blässlaui». «Das Ziel ist es, die wertvollen Natur- und Lebensräume zu fördern und die Trockenmauern als prägendes Landschaftselement des Obertoggenburg erlebbar zu machen», erklärt Revierförster Thomas Abderhalden. Zudem sollen die Mauern wieder ihrem ursprünglichen Zweck dienen, nämlich der Abgrenzung der Weiden. Der Mauerbau geht wie einst vornehmlich in Handarbeit vonstatten. Zu sehen sind die Kunstwerke beim Weiher im Gebiet Stofel im Ijental.